Eine Interpretation des neuen tiefen Staates in Damaskus und der Dominanz der türkischen Achse

آدمن الموقع
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Eine geopolitische Studie von Ibrahim Kaban
Syrien erlebt derzeit einen Wendepunkt in seiner modernen Geschichte – nicht nur durch äußere Eingriffe, die sein nationales Gefüge zerrüttet haben, sondern auch durch die allmähliche Bildung eines neuen Regimes in Damaskus. Dieses Regime unterscheidet sich grundlegend von seinen Vorgängern: Es wird nicht von offiziellen Institutionen oder nationaler Legitimität geleitet, sondern von Schattennetzwerken militärischer und sicherheitsbezogener Akteure mit transnationalen Agenden. Diese Netzwerke verkörpern eine Konvergenz globaler dschihadistischer Interessen mit expansiven regionalen Ambitionen, insbesondere jener der türkisch-katarischen Achse.
Diese Studie beleuchtet die Komplexität dieser neuen Realität, indem sie das Phänomen des „dschihadistischen Tiefenstaats“ analysiert und die Rolle von Ahmad al-Sharaa als zivile Fassade eines umfassenderen Systems untersucht, das von Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) und dem türkischen Geheimdienst dominiert wird. Zudem untersucht sie den ideologischen Wettbewerb innerhalb dieser hybriden politischen Struktur, die Verbindungen zwischen HTS und dem türkisch-katarischen Projekt sowie die parallelen Sicherheitsapparate, die die Staatsfunktionen kontrollieren.
Dies ist nicht nur ein Versuch, die syrische Gegenwart zu deuten, sondern auch eine Warnung vor einer Zukunft, die den Syrern durch Gewalt, ausländische Finanzierung und ideologische Manipulation aufgezwungen wird. Es ist ein Appell, den Weg des syrischen Staates neu zu überdenken: Wird er sich als souveräne nationale Einheit behaupten oder zu einem funktionalen Stellvertreterprojekt unter islamistischer Fassade und ausländischer Verwaltung werden?

Die Regierungsfassade – Ahmad al-Sharaa zwischen Symbolik und realer Macht

Seit Ahmad al-Sharaa die Führung der Übergangsregierung in Damaskus übernommen hat, wurde deutlich, dass seine Rolle nicht darin besteht, ein unabhängiges nationales Projekt zu leiten, sondern als symbolische Figur zu dienen, die von außen auferlegte Machtverhältnisse legitimiert. Er genießt breite Akzeptanz unter regionalen Akteuren, insbesondere Ankara und Doha, doch diese „Legitimität“ spiegelt sich nicht in realer Macht wider.
Tatsächlich kontrolliert al-Sharaa weder die Sicherheitspolitik noch die Außenpolitik oder die effektive Verwaltung. Diese Bereiche werden von inoffiziellen Netzwerken kontrolliert, die mit dem Dschihadistenrat und HTS verbunden sind. Dies reflektiert ein neues Regierungsmodell: eine zivile Fassade, hinter der militärisch-geheimdienstliche Kontrolle steht, die tief in türkische Interessen eingebettet ist.

Der Dschihadistische Tiefenstaat – Herrschaft über Damaskus aus dem Schatten

Der sogenannte „Dschihadistenrat“ fungiert als hybrides militärisch-geheimdienstliches Gremium, das zwischen HTS, verbündeten islamistischen Fraktionen und türkischen Geheimdienstoffizieren koordiniert. Er trifft keine öffentlichen Entscheidungen, übt jedoch entscheidenden Einfluss auf Schlüsselpositionen, militärische Operationen und gesellschaftspolitische Maßnahmen aus.
Abu Dujana, einst führender Kommandeur der HTS, ist zum Symbol dieses Tiefenstaates geworden. Laut Feldquellen werden wichtige Entscheidungen in geheimen Einrichtungen unter Aufsicht türkischer Offiziere getroffen, während die Regierung von al-Sharaa lediglich begleitende Erklärungen abgibt. Viele Mitglieder dieses Apparats sind ausländische Kämpfer, was jede Vorstellung nationaler Souveränität im entstehenden Regierungssystem untergräbt.

Islamistische Fraktionierung – Zwischen salafistischem Dschihadismus und pragmatischem Islamismus

Innerhalb der Übergangsregierung entfaltet sich ein verdeckter Machtkampf zwischen verschiedenen Strömungen des politischen Islam – von radikalen salafistischen Dschihadisten bis hin zu pragmatisch ausgerichteten Akteuren der Muslimbruderschaft. HTS, die sich der ersteren Strömung zuordnet, versucht ihre Dominanz durch Infiltration exekutiver Organe zu festigen, während die von der Türkei und Katar unterstützten Muslimbrüder ein moderates islamisches Regierungsmodell etablieren möchten, das für die internationale Gemeinschaft akzeptabler erscheint.
Dieser ideologische Konflikt äußert sich in widersprüchlichen Politiken, fragmentierter Entscheidungsfindung und konkurrierenden Narrativen innerhalb von Bildung, Justiz und Innerer Sicherheit – alles unter einem brüchigen nationalen Rahmen.

Das türkische Projekt in Syrien – Von strategischer Tiefe zu demografischer Umgestaltung

Die türkische Präsenz in Syrien geht über humanitäre oder sicherheitspolitische Belange hinaus – sie stellt ein strategisches Projekt dar, das auf langfristige Kontrolle im Norden Syriens abzielt. Die Umsetzung erfolgt durch:
- Demografische Neustrukturierung mittels Bevölkerungsumsiedlungen und sektiererischer Gleichgewichte.
- Einführung der türkischen Sprache im Bildungswesen.
- Integration der lokalen Wirtschaft in die türkische Lira und Finanzstrukturen.
- Einsatz humanitärer NGOs als Instrumente der Soft Power.
Bewaffnete Gruppen, die Ankara direkt oder über Verwaltungsproxies loyal ergeben sind, sorgen für die Umsetzung dieser Agenda unter dem Deckmantel von Stabilität und islamischer Ordnung.

HTS – Kosmetische Reformen, unveränderte Kernstruktur

HTS hat sich taktisch gewandelt – von einem Al-Qaida-Ableger zu einem faktischen Regierungsakteur in Idlib und nun in Damaskus. Doch ihre ideologische Grundlage und internen Strukturen sind unverändert: Sie nutzt weiterhin Gewalt, um eine islamische Ordnung unter ausländischer Schirmherrschaft durchzusetzen.
Anführer Abu Muhammad al-Jolani hat die Gruppe öffentlich umgebrandet und ihren Diskurs gemildert, doch der Sicherheitsapparat und die ausgrenzende Mentalität bleiben bestehen. Heute positioniert sich HTS als Partner im türkischen Projekt, verankert sich in Verwaltungs- und Religionsstrukturen, bleibt jedoch international isoliert.

Die katarisch-türkische Achse innerhalb der HTS – Finanzierung, Einfluss und Machtbalance

Der Aufstieg der HTS wäre ohne die katarisch-türkische Unterstützung undenkbar. Die Türkei liefert logistische und militärische Hilfe, während Katar finanzielle und politische Rückendeckung über Medien und NGOs gewährt.
Katars Rolle ist differenziert. Einige HTS-Fraktionen mit Verbindungen zu Doha arbeiten aktiv an einer gemäßigten Außendarstellung in der Hoffnung auf internationale Anerkennung. Doha vermittelt auch humanitäre Verhandlungen zwischen HTS und westlichen Akteuren.

Katarischer Einfluss äußert sich in:

- Finanzierung lokaler NGOs über Proxy-Netzwerke.
- Förderung HTS-naher Medienfiguren auf Plattformen wie Al Jazeera.
- Direkter finanzieller Unterstützung der zivilen HTS-Strukturen.
Gleichzeitig bestehen Spannungen:
- Die radikale Fraktion innerhalb der HTS betrachtet Katars Rolle als Verwässerung dschihadistischer Prinzipien.
- Die zivil orientierte Bruderschaftsfraktion sieht in Doha Schutz vor türkischem oder westlichem Verrat.
Diese doppelte Abhängigkeit macht HTS zu einem Hybrid zwischen dschihadistischer Bewegung und Proxy-Regierungsakteur.

Der HTS-Sicherheitsapparat – Struktur, Doktrin und geheime Operationen

Der Sicherheitsapparat der HTS bildet das Rückgrat ihrer inneren Kontrolle. Er funktioniert als Parallelstaat mit umfassender Autorität über Verhaftungen, Überwachung, soziale Kontrolle und Narrative.
Kernmerkmale:
- Zentrale Befehlsstruktur unter loyalen Jolani-Vertrauten.
- Netzwerke geheimer Gefängnisse.
- Digitale Überwachungseinheiten für soziale Medien.
Die Doktrin verbindet dschihadistische Ideologie mit autoritärem Regierungsstil: Sie lehnt Demokratie ab, bedient sich jedoch administrativer Strukturen zur Kontrolle der Bevölkerung.

Zukünftige Szenarien – Risse in der Allianz oder dauerhafte Etablierung?

Trotz der aktuellen Geschlossenheit ist die Allianz zwischen Fassade-Regierung, HTS und türkischen Geheimdiensten verletzlich:
- Al-Sharaa könnte später nach Unabhängigkeit streben und riskiert damit Marginalisierung oder Ausschaltung.
- HTS könnte mit Bruderschaftsfraktionen kollidieren, falls sich ihre Machtposition abschwächt.
- Politische Veränderungen in der Türkei könnten die Allianz umgestalten.
Alternativ könnte sich das Modell verfestigen, insbesondere wenn es international als stabile islamische Verwaltung dargestellt wird. In jedem Fall hängt Syriens Schicksal davon ab, ob nationale Kräfte eine glaubwürdige Alternative zu diesem von außen gesteuerten hybriden Regime aufbauen können.

Quellenverzeichnis:

1. **International Crisis Group (ICG)** – „Tentative Peace in Idlib: The Challenges Ahead“, Bericht Nr. 213, Brüssel, 2023.
2. **Carnegie Middle East Center** – Aron Lund, „The Jihadist Governance of Hay’at Tahrir al-Sham“, 2022.
3. **Chatham House** – Haid Haid, „HTS's Soft Power: Civil Administration and Co-optation of Local Institutions“, 2021.
4. **Washington Institute for Near East Policy** – Fabrice Balanche, „The Turkish Plan for Northern Syria: Demographic and Political Engineering“, 2022.
5. **Middle East Institute (MEI)** – Charles Lister, „The Evolution of Hay’at Tahrir al-Sham“, 2023.
6. **Omran Center for Strategic Studies** – „Local Governance in HTS-Controlled Areas: Between Civil Facade and Security Control“, 2023.
7. **Al Jazeera Center for Studies** – „Turkey and Armed Groups in Syria: Strategic Alliance or Mutual Interest?“, 2022.
8. **Syrische Krisenberichte (2020–2024)** – Feldbasierte Einblicke in HTS-Operationen.
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