Die Rückkehr des Extremismus in Syrien "Zwischen der Reproduktion des IS, dem Zerfall des Staates und der Politik des Chaos"

آدمن الموقع
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Regelpunkt. Team für geostrategische Studien
Die erneute Debatte über Extremismus in Syrien ist längst keine rein sicherheitspolitische Frage mehr. Vielmehr ist sie Ausdruck einer tiefgreifenden strukturellen Krise, die Staat und Gesellschaft gleichermaßen erfasst hat. Was sich heute in Syrien vollzieht, ähnelt nicht der Phase des sogenannten „Islamischen Staates“ zwischen 2014 und 2019, sondern markiert den Übergang in eine neue Phase: eine Phase, in der Extremismus nicht mehr territorial, sondern funktional wirkt. 
Syrien steht heute nicht vor der Rückkehr einer einzelnen Organisation, sondern vor der Wiederproduktion jener Bedingungen, die Radikalisierung ermöglichen. Ein geschwächter Staat, eine erschöpfte Gesellschaft und ein blockierter politischer Horizont bilden den Nährboden für neue Formen des Extremismus – weniger sichtbar, aber strukturell tiefer verankert. 
 
Vom „Kalifat“ zur Ökonomie des Chaos

Mit der militärischen Niederlage des IS endete dessen territoriales Projekt, nicht jedoch seine ideologische oder funktionale Existenz. An seine Stelle trat eine neue Logik: die Ökonomie des Chaos. Extremismus benötigt heute keine Kontrolle über Städte oder Institutionen mehr, sondern lebt von Instabilität, Unsicherheit und politischen Bruchlinien. 
In dieser Phase agiert Radikalismus dezentral, flexibel und schwer greifbar. Er nutzt Sicherheitslücken, gesellschaftliche Fragmentierung und staatliche Schwäche. Sein Ziel ist nicht Herrschaft, sondern Destabilisierung – die fortgesetzte Erosion von Ordnung, Vertrauen und gesellschaftlichem Zusammenhalt. 
Gerade diese Transformation macht den Extremismus gefährlicher als zuvor, da er nicht mehr klar identifizierbar ist, sondern als latentes Phänomen in Krisensituationen immer wieder auftaucht. 
 
Das syrische Umfeld als Nährboden der Radikalisierung

Die Rückkehr extremistischer Tendenzen ist ohne die katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen Syriens nicht zu verstehen. Jahre des Krieges haben Wirtschaft, Bildungssystem und soziale Strukturen zerstört. Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit prägen den Alltag weiter Teile der Bevölkerung. 
In einem solchen Umfeld wird Extremismus weniger zu einer ideologischen Entscheidung als zu einer sozialen Reaktion. Besonders junge Menschen, die keine Zukunftsperspektive sehen, greifen auf einfache Erklärungen, klare Feindbilder und radikale Narrative zurück, die Sinn und Zugehörigkeit versprechen. 
Radikalisierung entsteht hier nicht aus Überzeugung, sondern aus Frustration, Ohnmacht und dem Gefühl, von Staat und Gesellschaft verlassen worden zu sein. 
 
Staat und Extremismus: Eine ambivalente Beziehung

Die Frage nach extremistischen Strukturen innerhalb des Staates erfordert eine differenzierte Betrachtung. Es gibt keine belastbaren Hinweise auf ideologisch extremistische Organisationen innerhalb staatlicher Institutionen. Dennoch existieren tiefere strukturelle Probleme. 
Während des Krieges entstanden informelle Sicherheits- und Machtstrukturen, die sich weitgehend der institutionellen Kontrolle entzogen. Einige dieser Akteure operieren mit Methoden, die auf Zwang, Einschüchterung und Gewalt beruhen – Praktiken, die denen extremistischer Gruppen ähneln, auch wenn sie nicht religiös motiviert sind. 
Besonders problematisch ist die stillschweigende Duldung oder funktionale Nutzung extremistischer Erscheinungsformen zu politischen Zwecken. In bestimmten Kontexten dient Extremismus als Drohkulisse – nach innen zur Kontrolle der Gesellschaft, nach außen zur Vermittlung der Botschaft, dass die Alternative zur bestehenden Ordnung Chaos sei. 
Dies stellt keine ideologische Nähe dar, sondern eine Form des instrumentellen Extremismus. 
 
Wenn Extremismus den öffentlichen Raum erreicht

Eine der alarmierendsten Entwicklungen ist das zunehmende Auftreten extremistischer Symbole und Praktiken im öffentlichen Raum. In jüngster Zeit kursieren Videos aus Damaskus und anderen Städten, die religiös-radikale Parolen, paramilitärische Inszenierungen oder die ideologische Beeinflussung von Kindern zeigen. 
Diese Bilder sind weniger wegen ihres Umfangs besorgniserregend als wegen ihrer Bedeutung. Sie weisen auf einen schleichenden Verlust staatlicher Autorität hin und auf die Normalisierung extremistischer Ausdrucksformen im Alltag. 
Wird diesem Trend nicht konsequent begegnet, droht eine gesellschaftliche Gewöhnung an Radikalität – ein Prozess, in dem Gewalt und Intoleranz als normal wahrgenommen werden und sich tief im kollektiven Bewusstsein verankern. 
 
Extremismus als regionales Machtinstrument

Die syrische Krise ist untrennbar mit regionalen und internationalen Machtkonflikten verbunden. Instabilität dient verschiedenen Akteuren als strategisches Instrument – zur Legitimation militärischer Präsenz, zur Einflussnahme auf politische Prozesse oder zur Verhinderung eines nachhaltigen Friedens. 
In diesem Kontext wird Extremismus nicht nur bekämpft, sondern teilweise instrumentalisiert. Er wird kontrolliert, kanalisiert oder situativ toleriert, je nach geopolitischer Interessenlage. Dadurch bleibt Syrien in einem Zustand permanenter Unsicherheit gefangen. 
 
Wohin steuert Syrien?

Die eigentliche Gefahr liegt nicht in der Rückkehr des IS als Organisation, sondern in der Normalisierung extremistischer Denk- und Handlungsmuster. Wenn Radikalisierung Teil des Alltags wird, verliert sie ihren Ausnahmecharakter – und damit ihre Eindämmungschancen. 
Repressive Sicherheitsmaßnahmen allein können dieses Problem nicht lösen. Im Gegenteil: Sie verstärken häufig genau jene Dynamiken, die Radikalisierung begünstigen. 
Eine nachhaltige Stabilisierung erfordert einen grundlegenden politischen Neuanfang: Wiederaufbau staatlicher Institutionen, soziale Gerechtigkeit, politische Teilhabe, wirtschaftliche Perspektiven und die Wiederherstellung gesellschaftlichen Vertrauens. 
 
Schlussfolgerung

Syrien steht nicht vor der Rückkehr eines vergangenen Feindes, sondern vor den Folgen eines ungelösten strukturellen Zerfalls. Extremismus ist nicht die Ursache dieser Krise, sondern ihr sichtbarstes Symptom. 
Solange Ausgrenzung, Armut, politische Blockade und institutioneller Verfall fortbestehen, wird sich Radikalisierung immer wieder neu formieren – unabhängig davon, wie viele militärische Siege verkündet werden. 
Die eigentliche Herausforderung besteht daher nicht darin, Extremisten zu bekämpfen, sondern eine Ordnung zu schaffen, in der Extremismus keinen Nährboden mehr findet.

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