Politische Analyse von Ibrahim Kaban
Die Frage „Wer herrscht über Damaskus?“ lässt sich nicht mit herkömmlichen politischen Begriffen beantworten. Die politische und sicherheitspolitische Landschaft rund um die syrische Hauptstadt ist geprägt von einem dichten Netz aus ideologischen Gruppierungen, Milizen und externen Einflussnehmern. Der syrische Staat als zentralisierte Institution existiert nur noch formal; an seiner Stelle ist ein Geflecht aus Machtzentren entstanden – religiös, ethnisch und geopolitisch motiviert –, das sich jeglicher einheitlicher Steuerung entzieht.
Der Schein des Dialogs: Die Rolle von Ahmed al-Shara
Ahmed al-Shara, in internationalen Medien oft als Symbolfigur des Dialogs dargestellt, verfügt in Wirklichkeit über keinen entscheidenden Einfluss. Obwohl er sich zuletzt um eine Verständigung mit den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) bemüht hatte, wurde jeder Schritt seinerseits systematisch von radikal-islamistischen Gruppierungen torpediert, die den Gedanken an Pluralismus als ideologische Bedrohung empfinden.
Seine jüngste Ablehnung der Ergebnisse einer kurdischen Konferenz – obwohl sie mit seiner früheren Linie übereinstimmten – zeigt deutlich: Al-Shara agiert nicht als autonomer politischer Akteur, sondern als Marionette innerhalb eines Systems, das von fundamentalistischen Strukturen dominiert wird.
Die wahre Macht: Radikalislamistische Milizen und ihre Auftraggeber
Die tatsächliche Kontrolle über militärische und sicherheitspolitische Prozesse in Damaskus liegt bei salafistischen und dschihadistischen Gruppen. Diese treten äußerlich mit moderater Rhetorik auf, verfolgen jedoch in der Praxis eine rigide, theokratische Agenda. Besonders alarmierend ist, dass viele dieser Gruppen unter direktem Einfluss oder gar der Leitung des türkischen Geheimdienstes stehen. Die Türkei, die ihre Präsenz im Norden Syriens längst konsolidiert hat, nutzt diese Milizen als Werkzeuge geopolitischer Kontrolle, weit über ihre offiziellen Einflusszonen hinaus.
Die politische Kulisse: Symbolfiguren statt Souveränität
Akteure wie Ahmed al-Shara dienen in erster Linie der politischen Optik. In Wirklichkeit wird Syrien nicht von Dialog-orientierten Politikern, sondern von einer Koalition aus religiösem Dogmatismus und geheimdienstlich gesteuerten Strukturen regiert. Selbst gutgemeinte Initiativen wie die kurdische Konferenz zur Selbstverwaltung werden nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern wegen ihres pluralistischen Potentials sabotiert.
Für die dominierenden islamistischen Gruppen bedeutet jede Form von Autonomie außerhalb ihrer Glaubensinterpretation eine Bedrohung der religiös-politischen Ordnung, die sie zu etablieren versuchen.
Die drohende Gefahr: Die schleichende Theokratie
Syrien befindet sich nicht nur in einem Zustand staatlicher Fragmentierung, sondern erlebt einen tiefgreifenden Umbau seiner gesellschaftlichen Grundlagen. Anstelle eines säkularen Staates entsteht ein theokratisches Herrschaftsmodell, getragen von religiösen Edikten, bewaffneten Milizen und grenzüberschreitenden Netzwerken.
Diese Entwicklung geschieht nicht in Isolation: Sie wird von externen Akteuren – insbesondere der Türkei – unterstützt, instrumentalisiert und ideologisch verstärkt. Was nach „Reform“ aussieht, ist in Wahrheit ein Prozess der Re-Theologisierung politischer und gesellschaftlicher Räume.
Fazit: Damaskus in Geiselhaft
Damaskus ist kein Ort staatlicher Souveränität mehr. Weder das Regime, noch die politische Opposition, noch zivile Kräfte verfügen über echte Kontrolle. Die Stadt – und zunehmend das gesamte syrische Territorium – befindet sich in der Geiselhaft extremistischer Gruppierungen, deren Macht auf Waffengewalt, religiösem Dogmatismus und ausländischer Steuerung beruht.
Die internationale Gemeinschaft und inner-syrische Reformkräfte müssen sich dieser Realität stellen: Figuren wie Ahmed al-Shara sind Fassade, nicht Substanz. Ohne eine klare Konfrontation mit den Strukturen des religiösen Extremismus wird Syrien nicht in einen säkularen Autoritarismus zurückfallen, sondern in eine neue Form religiös begründeter Unfreiheit – maskiert als Befreiung.