Regelpunkt. Team für geostrategische Studien
Der syrische Konflikt hat in den letzten zehn Jahren dramatische Veränderungen durchlaufen. Während einige Oppositionsfraktionen an Einfluss gewannen, wurden andere durch interne Spannungen und externe Interventionen geschwächt. Unter diesen Gruppen hat sich die Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) unter der Führung von Abu Mohammad al-Jolani als dominierende Kraft im Norden Syriens etabliert. Jolani hat versucht, seine Organisation von einer dschihadistischen Bewegung zu einer pragmatischen, staatsähnlichen Struktur umzugestalten.
Doch die jüngsten Ereignisse, insbesondere in der Küstenregion Syriens, haben die wahre Natur des "neuen Regimes" in Damaskus enthüllt und gezeigt, dass es sich keineswegs um eine gemäßigte Alternative handelt. Die Massaker und gezielten Angriffe gegen die alawitische Gemeinschaft beweisen, dass die sektiererische Gewalt, die einst dem Assad-Regime zugeschrieben wurde, nun von seinen Gegnern reproduziert wird. Dies wirft eine zentrale Frage auf: Wird dasselbe Muster der Gewalt bald auch gegen andere Gemeinschaften wie die Drusen und Kurden angewendet, wenn die Umstände es zulassen?
Jolanis Transformation: Vom Dschihadisten zum faktischen Herrscher
Abu Mohammad al-Jolani war lange Zeit eine undurchsichtige Figur im syrischen Bürgerkrieg, bis er als Anführer der Jabhat al-Nusra, dem syrischen Ableger von al-Qaida, in Erscheinung trat. Doch mit der Veränderung der geopolitischen Lage begann er, sich von al-Qaida zu distanzieren, um HTS als eine legitimere politische Kraft zu präsentieren, die von internationalen Akteuren als Gesprächspartner anerkannt werden könnte.
Diese Entwicklung war jedoch weniger eine ideologische Wende als eine taktische Anpassung, um die eigene Macht zu sichern und auszubauen. Die jüngsten Massaker an der Küste Syriens haben jedoch gezeigt, dass die sektiererische und gewalttätige Ideologie von HTS weiterhin das Handeln der Organisation bestimmt. Anstatt sich zu einer regulären Militärmacht zu wandeln, hat die Gruppe Taktiken übernommen, die stark an die brutalen Repressionsmethoden des Assad-Regimes erinnern – nur mit vertauschten Rollen.
Die syrische Küste: Ein Test für die "Mäßigung" von HTS
Die Massaker an Alawiten in ländlichen Gebieten von Latakia zeigen deutlich, dass die Selbstdarstellung von HTS als gemäßigte Kraft eine Täuschung ist. Die Organisation hat sich bemüht, sich als disziplinierte Armee darzustellen, doch ihre jüngsten Aktionen sprechen eine andere Sprache.
Die Gewalt in der Küstenregion ist nicht nur eine Reaktion auf frühere Konflikte, sondern eine bewusste Politik der sektiererischen Vergeltung. Dies ähnelt den Methoden des Assad-Regimes, das durch gezielte Vertreibungen und Massaker die demografische Struktur Syriens verändert hat. Die Angriffe an der Küste lassen darauf schließen, dass ein zukünftiges Regime unter HTS ebenso autoritär und ausschließend sein könnte wie das Assad-Regime selbst.
Droht eine Eskalation gegen Drusen und Kurden?
Die sektiererische Gewalt in der Küstenregion wirft ernsthafte Fragen über die Zukunft anderer Minderheiten in Syrien auf, insbesondere der Drusen und Kurden.
Drusen: Die drusische Gemeinschaft, insbesondere in Suwayda, hat sich während des gesamten Krieges weitgehend neutral verhalten. Doch falls HTS seine Macht weiter ausdehnt, könnte sie die Drusen als Hindernis für ihr Regierungsmodell betrachten und mit militärischen Mitteln gegen sie vorgehen.
Kurden: Die Beziehungen zwischen HTS und den kurdischen Fraktionen sind bereits jetzt angespannt. Falls HTS weiter an Einfluss gewinnt, könnte ein direkter Konflikt mit kurdischen Streitkräften in Nordostsyrien unausweichlich werden – insbesondere wenn die Türkei dies als Gelegenheit nutzt, um ihren Einfluss gegen die Kurden auszubauen.
Syrien am Scheideweg: Welche Zukunft erwartet das Land?
Die Ereignisse in der Küstenregion haben das geopolitische Gleichgewicht erneut verschoben und deutlich gemacht, dass Syrien noch lange nicht auf dem Weg zur Stabilität ist. Wenn das "neue Regime", das sich als Alternative zu Assad präsentiert, auf demselben gewaltsamen und ausschließenden System basiert, dann ist es nichts weiter als ein Führungswechsel ohne strukturelle Veränderungen.
Drei mögliche Szenarien für Syriens Zukunft zeichnen sich ab:
1. Anhaltendes Chaos: Syrien bleibt ein Schauplatz für Stellvertreterkriege internationaler und regionaler Mächte, ohne dass eine politische Lösung in Sicht ist.
2. HTS als dominierende Kraft: Jolanis Organisation etabliert sich als Hauptmacht in den von der Opposition kontrollierten Gebieten, stößt aber auf anhaltenden Widerstand.
3. Faktische Teilung des Landes: Syrien bleibt in verschiedene Einflusszonen aufgeteilt – unter Kontrolle des Regimes, der Opposition und der kurdischen Kräfte – ohne eine einheitliche Regierung.
Fazit: Ist die Maske des "Gemäßigten" gefallen?
Die jüngsten Ereignisse in der Küstenregion liefern eine klare Antwort auf die Frage, ob HTS wirklich gemäßigt ist – sie ist es nicht. Die ethnischen Säuberungen, gezielten Tötungen und militärischen Strategien ähneln denen des Assad-Regimes, was beweist, dass sich der Kreislauf der Gewalt in Syrien nicht auflöst, sondern lediglich neu formiert.
Da das Land weiterhin zwischen der Eisenfaust Assads und der Brutalität radikaler Gruppen wie HTS gefangen ist, erscheint eine friedliche und inklusive Zukunft für Syrien weiterhin in weiter Ferne.